Die Siegesallee war ein von Kaiser Wilhelm II. 1895 in Auftrag gegebene und finanzierte „via triumphalis“, die 1901 vollendet wurde. Aus Marmor gemeißelt, stellten 32 Denkmäler sämtliche Markgrafen und Kurfürsten Brandenburgs und Könige Preußens zwischen 1157 und 1888 dar. Den Hauptfiguren standen je zwei Büsten von Personen zur Seite, die in der Zeit der jeweiligen Herrscher eine wichtige Rolle spielten. Die 750 Meter lange Allee verlief vom früheren Königsplatz vor dem Reichstag, dem ursprünglichen Standort der Siegessäule, als Sichtachse bis zum Kemperplatz mit seinem Rolandbrunnen.(1)

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Wollte man der in den Denkmälern angelegten Chronolgie folgen, so ging es von der Westseite aus - eingangs dem Gründer der Mark Brandenburg (Albrecht der Bär) huldigend - weiter bis zum Rolandbrunnen. Hier war eine ansprechende historische Taufstation in Szene gesetzt, eine Art Urszene des städtischen Gründermythos; mit erhobenem Richtschwert bildete der granitene Roland einen maskulinen Kontrapost zur geflügelten Goldelse auf der Siegessäule. Zurück flanierte man an der Ostseite entlang in die eigene Gegenwart. Bis zur Siegessäule war es dann nur noch ein Katzensprung. In dieser konnte man wie auf einer Jakobsleiter emporsteigen, um den Himmel über Berlin zu genießen. Von dort herabblickend ergab sich ein eigentümliches Bild: Die Denkmalsgruppen wirkten wie die Häkchen am Reißverschluss der Herrschaftsgeschichte, eine Verhäkelung, die man sich mit Hilfe des langen Schiebergriffs der Rolandstatue mal geschlossen, aber auch wieder geöffnet vorstellen konnte.

„Siegesallee“, das bedeutet verkürzt: Jedes noch so kleine Ich, jede größere Gruppe oder Interessengemeinschaft, ja, jede Nation möchte Sieger werden, sein und bleiben. Zur Zelebrierung dieser stattgehabten oder auch nur imaginierten Triumphe werden besondere Orte gewählt und entsprechend ausgestattet, um Pathos zu generieren. Und spätestens seit der Antike ist es ein Gemeinplatz: Nahezu jeder Regierungssitz weist mindestens eine „via triumphalis“ auf. Die mit Denkmalsschmuck und „point de vues“ wie Säulen oder Triumphbögen ausgestattete Wegführung bildet ein öffentliches Forum, auf dem die herrschende Ideologie kommuniziert und gefeiert werden soll. Auf dieser Achse bewegen sich die Räder der historischen Subjekte mit bildgewaltiger Beschleunigung von einem dunklen Anfang durch eine lichterfüllten Gegenwart, bis hin zu einer verheißungsvoll strahlenden Zukunft. Jene zeitlichen Vektoren werden durch eine ausgeklügelte Wegführung erreicht, also durch die präzise Anordnung und Abfolge bedeutungsschwerer Denkmäler und Bauwerke, aber auch dank einer besonderen Lichtdramaturgie, dem Spiel von Hell und Dunkel. Gerade die Kraft der Schatten - und hiermit konnotiert: der Tod – gehört unabdingbar zur lichtnerischen Inszenierung in der Denkmalkunst. Schließlich basiert jeder Triumph auf der von Verlusten und verstorbenen Helden gezeichneten Schattenseite der Historie. So bergen Siegesalleen auch einen Totenkult, bewegt man sich doch in der Gegenwart nur dank der Tatkraft und Opferungsbereitschaft der Gefallenen. Mit 32 (Halb-) Rundbänken in der Berliner Siegesallee wurde ein zentrales Motiv der pompejanischen Gräberstraße zitiert. Schon Schinkel hatte dieser Rundbank einen festen Platz im Interieur der preußischen Schlösser und großbürgerlichen Wohnungen mit ihren halbrunden Gedenk-Nischen (Exedren) zugewiesen, um die Anwesenheit von Leben und Tod in die Atmosphäre der Teesalons zu holen. (2)

Der Tote und seine spätere Auferstehung als marmorne Lichtgestalt – so gesehen, ist auch die Berliner Siegesallee ein Kreuzweg mit mehr als 30 Stationen. Zunächst jedoch nicht so tragisch wie die christliche Leidensgeschichte entlang der „via dolorosa“, sondern eher preußisch belehrend und stimmungsvoll Geschichte bezeugend, entpuppt sie sich als eine begehbare Zeittafel und als Theater der Erinnerung. Dieses wird im Sarotti-Album mit allen zur Verfügung stehenden motorischen Mitteln, also per pedes, Fahrradrikscha, mit Pferd oder Automobil in eine dynamische Sphäre transportiert und von den Vertretern der wilhelminischen Gegenwart erkundet.

Als topographische Schnittstelle appelliert die Siegesallee zugleich an tieferliegende Bewusstseinsschichten: Hintergrund jeder hellen Rundbank sind die düsteren Baumgruppen des Tiergartens. Die Sarotti-Bilder sowie andere Ansichten der Allee verdeutlichen den Kontrast von dunklem Grün des Parks und den leuchtend weiß aus ihm empor ragenden Statuen oder Puppen. Sie markieren den Grenzverlauf zwischen dem Reich natürlicher Instinkte und besonnener Vernunft, zwischen Chaos und Ordnung. Denn der Tiergarten stand seit jeher für das Unterbewusstsein der Stadt, also jene vor dem alten Zentrum herrschende Wildnis, die vom Licht der Stadt getrennte Berliner „Finsterworld“. In den Untiefen dieser Gegenwelt konnte man ausruhen oder seinem triebhaften Verlangen bei der Jagd auf Tiere respektive Geschlechtspartner nachgehen. Im Bereich animalischer Begierden oder berauschender Getränke überdehnen sich räumliche und zeitliche Distanzen traumartig, was der Berliner mit der Metapher „bis in die Puppen“ immer noch gern zum Ausdruck bringt. Erinnerungen etwa an die unglaubliche Dauer eines vergnüglichen Umtrunks oder auch an Entfernungen, die über das normale Maß hinausgehen, werden damit bezeichnet. (3)

Im Urgrund des Tiergartengrüns sollte mit der Anlage einer Siegesallee die triumphale Stadt-, Landes- und Reichshistorie an den Tag kommen und bewusst werden. Was im Berliner Volksmund kaum funktionieren konnte, weil zuvor schon der Witz eine Distanz per Puppendekret geschaffen hatte. Denn auch das Leuchtende des Marmors kam den Berlinern spanisch vor: weißer Marmor, so etwas kannte man auch von den Spielpuppen, deren Köpfe aus Porzellan geformt und bemalt waren. Für den Berliner waren folglich alle – auch die künstlerisch herausragenden - Skulpturen aus Marmor puppengleich und damit auf dem Nippes-Niveau einer kindlichen Spielwiese angesiedelt. In der Sieges- oder „Puppenallee“ betrat man so gesehen nichts anderes als die Kinderstube des Deutschen Reiches, gern auch wie die Sarotti-Bilder zeigen als betrunkene Burschenschaftler oder mit Rasanz dank modernster Motorisierung. Am nahezu untersten Punkt des Berliner Urstromtales, im tiefen Tal der Puppen, fast im Sumpf angesiedelt, war die späte Walhalla der Reichshauptstadt groß und klein zugleich. (4) Der jeweilige Maßstab ergab sich aus der individuellen Pathos-Perspektive, aus der ein jeder seinen ihm genehmen historischen Vektor entwickeln konnte.

Letzten Endes war die Siegesallee eine populäre Versuchsanordnung zur Erzeugung von Pathos und leistete einen fulminanten Beitrag zu historischen Strategien von Propaganda und Werbung. „Réclame Royale“ – so ist die bedeutendste kunsthistorische Aufarbeitung des Themas betitelt. (5) Praktiziert wurde in diesem Umfeld der begleitenden Medien wie Postkarten und Sammelbildern „Popart avant la lettre“. Während in den 1960er Jahren Künstler den Alltag wie Warhol mit seinen Siebdrucktafeln monumentalisiert und mit Pathos aufgeladen haben, geht das Sarotti-Album den umgekehrten Weg: Auf den Lithographien werden die großen Monumente miniaturisiert und durch das alltägliche Getriebe ironisch verfremdet. Das von der Politik in Szene gesetzte Pathos der Denkmäler war hier in mehrfacher Hinsicht – auch dank der mitgelieferten Schokolade - konsumierbar geworden. Im Unterschied zu den starr aufgereihten Statuengruppen bilden die flanierenden Zeitgenossen der Sarotti-Künstler einen Kontrapost vielfältigen Zeitkolorits – auch das ist Pop.

Vom Topos der Siegesallee spannt sich der Bogen einer Memorialkultur weit über den eigentlichen Ort hinaus. Noch bevor die Heroen der Siegesallee in Stein gemeißelt wurden, waren sie bereits um 1892 auf den Straßenschildern der Reichshauptstadt präsent. Gerd Gauglitz hat unlängst in seinem Themenstadtplan „Berliner Straßennamen“ die jeweiligen Viertel, etwa das der „Hohenzollern“, der „Kriege“ oder der „Politiker männlichen Geschlechts“ farblich markiert und datiert. Diese allgegenwärtigen Siegesalleen im Kleinen mag Fontane im Blick gehabt haben, als er schrieb: „Hausname, Straßenname, das ist überhaupt das Beste. Straßenname dauert länger noch als Denkmal.“ (Der Stechlin) Als Straßenname erreichen die Helden der Geschichte ein weitaus größeres Publikum und bleiben vermutlich länger im kollektiven Gedächtnis haften als eine Statue, die irgendwann zerstört oder verlagert wird.

Für die Errichtung der Welthauptstadt Germania wurde die Puppenallee ab 1938 in Richtung Großer Stern verlagert, dem sogenannten „Forum des Zweiten Reiches“ (6). Vieles davon ging im Krieg zu Bruch. Nach der Kapitulation bekam Berlin vor der geplanten Halle des Volkes und am Ende der ehemaligen Siegesallee den gerundeten Schlussstein einer Siegermacht vorgesetzt: das sowjetische Ehrenmal. (Dieses steht ebenfalls in der Tradition der Rundbänke an der pompejanischen Gräberstraße und wurde wie die Statuengruppen der Siegesallee mit einer zentralen Figur, hier allerdings flankiert von zwei lebenden Totenwächtern der Roten Armee, ausgestattet).

Im Nachkriegsberlin waren Siegesalleen in jeder Besatzungszone präsent, und regelmäßig veranstalteten die Alliierten hier aufwendige Siegesparaden. 1969 entstand zudem durch den Konkurrenzdruck der Siegermächte eine neue Siegessäule als alles überragender „point de vue“ für Straßenzüge in Ost wie West: der Fernsehturm. Er war zugleich das Meta-Monument eines neuen, des kosmonautischen Zeitalters. Die Helden kamen nun aus einer anderen Sphäre, sie wurden auf der „Allee der Kosmonauten“ bejubelt, fern der eigentlichen Stadt. Angelegt wurde die Allee der Überflieger im Zentrum des industriellen Bauens, der Plattenbausiedlung Marzahn, dem Wohnviertel für den neuen Menschen auf den alten Rieselfeldern Berlins, wo einst die Exkremente der Hauptstadt hingepumpt wurden. Hier endlich war der Topos „Siegesallee“ All-gegenwärtig geworden.

Die historischen Figuren verharrten währenddessen noch lange Zeit im Pumpwerk an der Schöneberger Straße, der ehemaligen „cloaca maxima“ Berlins. (7) Erst spät fanden sie wieder sichere Fundamente in der Zitadelle Spandau.

Im Osten wurde damals die Metapher der Siegesallee nach allen Regeln der Gebrauchskunst sozialisiert. So gab es in den Betrieben und Kombinaten der DDR eine „Straße der Besten“, begleitet von den Porträts der vorbildlichen Arbeitskräfte und Ideengeber. Der Sozialismus nutzte die geniale preußische Belobigungskultur, die vor allem Sieger kannte und benannte, um diese in Kalendern, Straßennamen und den unzähligen Denkmälern zu feiern. (8)

Was aber bleibt vom Pathos der historischen Siegesalleen heute noch übrig? Einmal das, was vor allem Coaches und Therapeuten mit ihren Klienten trainieren: die Errichtung einer eigenen, klar strukturierten „Siegesallee“ – eine im Kopf begehbare Autobiographie von Stationen gelungener und misslungener Schritte und Einschnitte, die man aus der mentalen Distanz zu betrachten lernt. Zum anderen gibt es den Siegeszug der sozialen Medien, in denen man sich selber zum Helden oder zum Affen machen kann: als instagrammatische Statue einer eigenen Siegesallee oder Invalidenstraße, um sich mit einer verrückt anmutenden, mitunter pathologischen Selbstdarstellung zu verpuppen. Die Siegesallee hat nun unzählige Profile und noch mehr Chronologien gewonnen. Jeder kann heute Albrecht der Bär werden und mit seinem alter ego medial auftrumpfen, während die Weltgeschichte zu einem Kürzel auf twitter schrumpft.

1) Als Parkallee war die Siegesallee im Herbst 1873 – unmittelbar vor Einweihung der Siegessäule – angelegt worden 2) vgl. dazu die Vorlesungen des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich „zum Verhältnis von transzendentalem und ästhetischem Subjekt“ (Piranesi-Vorlesung) Berlin, 1979 3) Mit dieser Berliner Sentenz war allerdings nicht – wie immer wieder gern behauptet wird – die vor den Toren der Stadt liegende Sieges- oder Puppenallee angesprochen, sondern einige im 17. Jahrhundert etwa in der Höhe des heutigen Großen Sterns postierte antikisierende Skulpturen – abenteuerlich weit entfernt vom Zentrum des alten Berlins. 4) Der Tiergarten gehört zu jenem Teil des Berlin-Warschauer Urstromtales, dessen Boden so morastig ist, dass er nicht im urbanen Maßstab bebaut werden konnte. 5) Uta Lehnert: Der Kaiser und die Siegesallee. Réclame Royale. Berlin, Reimer, 1998 6) Wegen der von Albert Speer geplanten Nord-Süd-Achse für die „Welthauptstadt Germania“ wurden ab 1938 das Bismarck-Nationaldenkmal vom Königsplatz, die Siegessäule, die Figuren der Siegesallee sowie die Denkmäler von Albrecht von Roon und Helmuth von Moltke an die nördliche Seite des Großen Sterns versetzt. Nach den Planungen sollte hier ein Forum des Zweiten Reiches, also des Kaiserreichs von 1871 entstehen. Die Denkmäler der Siegesalle wurden entlang der Großen Sternallee platziert, die als Fußgängerweg südöstlich vom Großen Stern abzweigte. Sie hieß nun „Neue Siegesallee“ und hatte als Point de vue das Richard-Wagner-Denkmal. 7) vgl.: Bazon Brock / Ulrich Giersch: Im Gehen Preußen verstehen. Ein Kulturlehrpfad der historischen Imagination. Berlin, 1981 (vgl. auch: www.bazonbrock.de) 8 ) vgl.: Ulrich Giersch: „Straße der Besten“ - Topographie und Totenkult. In: Dirk Block/Gerald Noack: Auf der Straße des Fortschritts. Die Stadtpläne der DDR- Zeugnisse vom Leben im Sozialismus. Berlin, 2009